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Oktober 2010

Volterra ist eine der ältesten Städte der Toscana und liegt auf einem Bergrücken inmitten der sanften Hügellandschaft über dem Tal der Cecina. Im Ort selbst kann man eine Abzweigung zu einem bewaldeten Hügel nehmen, der an einem schloss- ähnlichen Baukomplex aus dem 19. Jahrhundert endet. Der Weg auf das Gelände ist von Hecken umwuchert und führt in einen nach drei Seiten geschlossenen, von Gras bewachsenen Innenhof. Die Stille der mitten im Wald gelegenen Anlage verbreitet eine eigentümliche Atmosphäre. Auf die wenigen Besucher wartet eine Entdeckung:

Die Sockelzonen des Gebäudes sind rundum mit seltsamen Ornamenten überzogen.Tritt man näher heran und schreitet den etwa 180 Meter langen Fries ab, erkennt man in den Putz geritzt Tausende von Zeichen: Buchstaben, bisweilen ganze Wörter, Jahreszahlen, geometrische und religiöse Symbole, schliesslich Zeichnungen, die Personen darstellen, aber auch Fluggeräte und Raumfahrzeuge. Der Autor dieses eigenartigen Werks signierte seine Arbeiten mit dem Kürzel N.O.F.4 und bezeichnete sich als „colonnello astrale (Sternenoberst) und als „ingegnere astronautico minerario“ (Weltraumbergbauingenieur).

Die Schriften, Zeichen und Bilder ritzte er mit Gürtelschnallen, mit Besteck, Münzen und anderen spitzen Gegenständen in die Wände. Sein bürgerlicher Name war Oreste Fernando Nannetti.


1978 erliess der italienische Staat das „Legge centottanta“, ein Gesetz zur Schliessung der schlimmsten psychiatrischen Anstalten. Jahrelang hatten der Psychiater Franco Basaglia und viele seiner KollegInnen für ein solches Gesetz und gegen die unerträglichen Missstände in den nach der Art von Hochsicherheitstrakten geführten geschlossenen Anstalten und Krankenhäuser gekämpft.


Eine solche psychiatrische Einrichtung barg auch das Gebäude am Rand der Stadt Volterra. Als sie Ende der 1970er Jahre aufgelöst wurde, gehörte Oreste Fernando Nannetti zu den Freigelassenen. Vierzehn lange Jahre hatte er hinter den Mauern und im geschlossenen Hof der Anstalt von Volterra verbringen müssen. Doch der Fries, den er in dieser Zeit schuf, berichtet nicht unmittelbar von dem, was ihm dort widerfuhr. Seine Zeichen, Wörter, Sätze und Bilder setzen sich

statt dessen zu einer „storia universale“ zusammen, zu einer Jahrhunderte überspannenden und sich zugleich in einzelnen Personen verdichtenden Weltgeschichte, in der es um die Eroberung imaginärer Staaten geht, um elektromagnetische Wellen und Strahlungen, um hypertechnologische Waffen, Flug- und Raumfahrzeuge, um mysteriöse alchemistische Verbindungen und die magischen Kräfte einzelner Metalle.


Oreste Fernando Nannetti wurde am 31. Dezember 1927 in Rom geboren. Der Vater verlässt die junge Mutter schon bald nach der Geburt des Sohnes. Dieser besucht eine private Volksschule und wird mit sieben Jahren in einer Fürsorge-, drei Jahre später erstmals in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. An einer entzündlichen Wirbelsäulenerkrankung leidend, verbringt er zwei Jahre im Ospedale Carlo Forlanini in Rom. 1948 klagt man ihn wegen Beamtenbeleidigung an und beschuldigt ihn der Erregung öffentlichen Ärgernisses. Aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens wird er am 25. September 1948 „wegen völliger Unzurechnungsfähigkeit“ freigesprochen. Das Gericht ordnet an, ihn für mindestens zwei Jahre in eine geschlossene Anstalt einzuweisen. 1958 wird Nannetti in die geschlossene Abteilung der Volterraner Anstalt gebracht. Zehn Jahre später, am 21. März 1968, kommt er in die offene Abteilung der Klinik und darf nun Tagesausflüge in die nähere Umgebung unternehmen. 1973 wechselt er in das ebenfalls in Volterra gelegene und als fortschrittlich geltende Bianchi - Institut. In seiner Krankenakte ist zu lesen: „Der Patient hat von seinem ersten Tag in Freiheit berichtet, nach vierzehn Jahren. Es ist traurig. Wir ziehen es vor, nicht niederzuschreiben, was ein Geisteskranker nach so langem Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt zu sagen hat, in denen er niemals von Freunden oder Verwandten besucht wurde.“


Deutlich sind die Spuren in der Anlage noch immer erkennbar. Offensichtlich wurden vor kurzer Zeit ernsthafte Versuche unternommen, die restlichen unverbröckelten Teile des verbliebenen Werks Nannettis vor weiterem Zerfall zu schützen indem eine Zeile Vordächer über dem Mauerwerk errichtet wurde.


Ebenso deutlich ist die drückende Atmosphäre im Innern der Gebäude spürbar. Da und dort sind noch immer stumme Zeugen des ehemailgen Klinikbetriebes zu sehen. Die Gebäude sind nach dieser langen Zeit in erbärmlichem Zustand, an vielen Orten ist das Dach eingestürzt und nur hartgesottene Besucher wagen sich in die oberen Etagen...